Ein Vorwort aus „Fiume oder der Tod“.

Fiume

Von Carlo Sicuro

Einhundert Jahre sind seit dem Abenteuer von Fiume nun vergangen. Ein langer Zeitraum, in dem die Welt in einer wohl nie dagewesenen Geschwindigkeit diverse Ereignisse von epochalem Ausmaß durchlebte (man denke bloß an den Zweiten Weltkrieg, an die Atombombe oder an die Mondlandung). Doch auch vor dem Eindruck all dieser einschneidenden Ereignisse bleibt das Abenteuer von Fiume, so sehr es in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht begrenzt geblieben sein mag, im Gedächtnis, bringt es auch weiterhin Menschen dazu, darüber zu schreiben, über seine Protagonisten zu forschen und über die einzelnen Sachverhalte rege nachzudenken. Ihren Anteil an diesem Interesse, lassen wir die Einzigartigkeit dieses Abenteuers einmal außen vor, haben gewiss auch die Hauptdarsteller dieses Unternehmens, das heißt: die unmittelbar federführenden Akteure. Da wäre ein Tommaso Marinetti als Begründer des Futurismus und der gleichnamigen Bewegung, der entsprechend seiner Sicht auf die Dinge für die Legionäre D’Annunzios den Begriff der „Deserteure ins Vorwärts“ schuf. Oder ein Guido Keller, der nicht nur aufgrund seiner tollkühnen militärischen Leistungen als Jagdflieger im Ersten Weltkrieg in die Geschichte einging, sondern insbesondere wegen seines provokanten Fluges über den Palazzo Montecitorio, den Amtssitz der Abgeordnetenkammer des italienischen Parlaments, den er aus dem Flugzeug heraus mit einem Nachttopf bewarf. Solch eine spöttische Aktion würde sich wohl noch heute größter Zustimmung erfreuen, bloß müsste man notgedrungen auf eine Drohne zurückgreifen, da es Männer vom Format eines Guido Keller kaum noch geben dürfte. Auch der Schriftsteller Giovanni Comisso wird bis heute als einer der maßgeblichen Protagonisten in Erinnerung gehalten. Gleiches gilt für den Syndikalisten Alceste De Ambris oder für den japanischen Dichter und Schriftsteller Harukichi Shimoi. Man könnte diese Aufzählung weiterführen. Über allen Akteuren steht jedoch Er, der Comandante, Gabriele D’Annunzio, Meister des Wortes und der Tat. Nicht geleugnet werden kann ferner der Einfluss vieler weiterer Persönlichkeiten, die zwar nicht unmittelbar an dem Abenteuer von Fiume beteiligt waren, diesem aber durch ihren Beitrag gleichwohl zu einer größeren Resonanz verhalfen, indem sie sich auf ihre jeweils eigene Art und Weise zu dem Unternehmen hingezogen fühlten und ihre Zuneigung zum Ausdruck brachten. Zu nennen wären Arturo Toscanini, Guglielmo Marconi, Benito Mussolini und viele andere. Fiume blieb auch außerhalb Europas keineswegs unbeachtet. So war es ein gewisser Lenin, der öffentlich bekundete, dass Männer wie D’Annunzio, Mussolini oder Marinetti seiner Meinung nach imstande gewesen wären, in Italien eine Revolution ins Rollen zu bringen. Ausgerechnet Fiume war dabei der erste Staat der Welt, der die Sowjetunion anerkennen sollte – und so verhielt es sich vice versa.


Als D’Annunzio, an der Spitze seiner Legionäre marschierend, den Startschuss zu diesem Abenteuer gab, war er beseelt vom Gefühl des Irredentismus, der Vereinigung aller italienischen Gebiete in einem Staatswesen. Denn nichts lag ihm ferner als das profane Streben nach Macht und die Befriedigung persönlicher Interessen. Gleiches gilt für die tollkühnen Männer, die seinem Vorbild folgten. Gut möglich, dass jener Gedanke nicht ins Reich der fiktiven Alternativweltgeschichten abgetan gehört, dass Gabriele D’Annunzio wirklich glaubte und hoffte, dass die seinerzeitige italienische Regierung – im Angesicht der geschaffenen Tatsachen – sich damit abfinden würde, dass sie also den Handstreich schlicht hinnehmen würde – ganz nach dem Motto: „Cosa fatta capo ha!“ (dt. „Was sein muss, muss sein!“)!

Die tatsächlich auf die Übernahme Fiumes folgenden Ereignisse sollten all diese Hoffnungen beiseite fegen, denn die in Amt und Würden befindliche hasenfüßige Regierung sollte sich hüten, sich der „auswärtigen Arroganz“ zu widersetzen (mit dieser Formulierung bezeichnete Alceste De Ambris den politischen Druck der ausländischen Mächte; namentlich dachte er an US-Präsident Wilson).


Nun, hätten die damaligen Vertreter des offiziellen Italien den Mut aufgebracht, die einmal erfolgte Übernahme von Fiume zu akzeptieren, etwa im Namen der Realpolitik, dann wäre die Stadt mit Sicherheit Teil des italienischen Staatsgebietes geblieben, und somit hätte alles dort sein Ende gefunden. Tatsache ist aber, dass D’Annunzio in dieser Hinsicht letztlich allein dastand, wenngleich er sich des moralischen Beistandes einiger illustrer Persönlichkeiten sicher sein konnte.

Die Geschichte nahm also eine andere Wendung, obschon das Abenteuer die Genialität des Comandante verdeutlichen sollte, der sich der Aufgabe gegenübersah, ein Staatsgebiet und die dortige Staatsbevölkerung regieren zu müssen. Nach gängigem Völkerrecht waren die Voraussetzungen für die Gründung eines Staates erfüllt. Und so kam es.

Die Republik am Quarnero beziehungsweise die Freie Stadt Fiume samt Hafen wurde zum Territorium dieses neuen souveränen Staates. Ähnliche Beispiele für die Begründung solcher Stadtstaaten liefert ein Blick ins alte Griechenland und die Konstituierung der Poleis, in denen die Einwohner nicht länger bloße Untertanen waren, sondern mit eigenen Rechten ausgestattete Bürger, die es zu achten galt. Philosophen wie Platon oder, zweitausend Jahre später, Tommaso Campanella mögen abstrakte Idealtypen von Staaten ersonnen haben (Platon in seiner „Politeia“, Campanella in seinem „Sonnenstaat“), doch waren dies bloß dialektische Geistesübungen, die in keinerlei praktische und konkrete Bemühungen überführt wurden. Gleiches gilt für Thomas Morus, der seine Idealgesellschaft in Form einer imaginären Insel namens Utopia zu Papier brachte. Fiume hingegen war echt, nämlich ein souveräner Staat, der tatsächlich konkret zu führen und zu regieren war.

Wir schreiben das Jahr 1920, und D’Annunzio, der, man muss es so sagen, vor Ideenreichtum sprudelt wie ein reißender Fluss, verfasst seine Carta del Carnaro. Wenn wir so wollen, ist diese Carta ein Spiegelbild seiner Persönlichkeit – und eine Ode an das Leben. Jede Verfassung schützt die Werte und Rechte im Sinne einer Hierarchie des Wesentlichen. In der Carta del Carnaro sollte die Freiheit – nicht die Anarchie – das höchste Gut sein, die insbesondere in Form einer ausgeprägten Volkssouveränität zur Geltung kommen sollte. Der Staat, so D’Annunzio, sei „res populi“ – Sache des Volkes –, in der die „Arbeit, sei sie noch so nieder, wenn wohl ausgeführt, zur Schönheit drängt und die Welt schmückt“. Bemerkenswert sind auch seine Ansichten zur Frage der Staatsbürgerschaft: „[…] für den Ausländer [wird es] zu einem Ehrentitel, die Staatsbürgerschaft zu erhalten, gleich der Zeit, wo es eine Ehre war, unter römischem Gesetz zu leben.“

Der von D’Annunzio ausgearbeitete Verfassungstext ist umfangreich, führt die Gedanken seines Verfassers weit aus und ist durchzogen von philosophischen und literarischen
Einwürfen sowie von überwältigender Leidenschaft. Dessen war sich D’Annunzio vollkommen bewusst. Er hielt ferner für zielführend, sich an Alceste De Ambris zu wenden, um der Verfassung eine technischere und weniger literarische Note zu verpassen, ohne dabei die Substanz infrage zu stellen.

Die finalisierte Fassung, überarbeitet dank der gesetzgeberischen Finesse von De Ambris, darf man wohl mit Fug und Recht als einen modernen Verfassungstext bezeichnen, der insbesondere hinsichtlich der Gewährung von Bürgerrechten überaus fortschrittlich war.


Das Abenteuer von Fiume sollte ein Sammelbecken der außergewöhnlichsten Persönlichkeiten, Ideen und Haltungen werden – ein regelrechter Schmelztiegel, aus dem sich später auch der historische Faschismus gern reichhaltig bediente, wenngleich die in Fiume zusammengekommenen Bestandteile nicht besonders kompatibel miteinander, geschweige denn homogen waren. Letztere historische Tatsache sollte das Abenteuer von Fiume naturgemäß belasten, führte sie doch dazu, dass spätere Widersacher nur allzu gerne ihre Chance nutzten, um dieses ungeliebte Kapitel nachträglich als eine Art Urübel darzustellen, das unweigerlich in die Katastrophen späterer Jahre münden musste. Ein Urübel also, das die Intelligenzija der Salonlinken ihren Widersachern nicht nur niemals würde verzeihen können, sondern so eifrig wie vorschnell alles daran setzte, das Fiume-Abenteuer in Gänze zu tilgen, indem sie es als einen Staatstreich einiger Glücksritter unter Führung von D’Annunzio abtat. Jedenfalls dauerte die Regentschaft am Quarnero bekanntermaßen nicht allzu lange, denn die italienische Regierung ordnete bereits gegen Ende des Jahres 1920 an, die Stadt durch reguläre Truppen einschließen zu lassen. Die zu Wasser und zu Lande herangeführten Kanoniere und Infanteristen kannten kein Pardon, und so begannen just in den Weihnachtstagen jenes Jahres die Kämpfe um die Stadt, die später unter dem Schlagwort der Blutweihnacht traurige Berühmtheit erlangen sollten. Zwar hatten beide Seiten einige Dutzend Verluste zu beklagen, doch war es insbesondere jene Tatsache, dass dort italienische Brüder blutig miteinander rangen, die den Comandante dazu brachte, seinerseits die Kämpfe einstellen zu lassen, wenngleich seine Legionäre (ihrerseits kriegserfahrene Männer aus den Reihen der Arditi, der Alpini, der Artillerietruppe, der Infanterie, der Grenadiere und der Uskoken) ihm bis zum bitteren Ende gefolgt wären. Eine vergleichbare Situation hatte sich bereits fünfzig Jahre zuvor ereignet. Als italienische Truppen 1870 gegen den Kirchenstaat des Vatikans marschierten, verzichtete Papst Pius IX. auf die Verteidigung, um ein sinnloses Blutbad zu verhindern.

Nach Beendigung der Kampfhandlungen wurde auf eine nennenswerte Bestrafung oder anderweitige Repressalien gegen die Beteiligten am Fiume-Abenteuer verzichtet, und auch D’Annunzio selbst wurde kein Haar gekrümmt.

Sofern es nun die vorliegende Bildergeschichte betrifft, so handelt es sich von Anfang bis Ende um eine Aneinanderreihung von bewegten Ereignissen, manche dramatisch, andere wiederum tollkühn, spöttisch oder von absoluter Ritterlichkeit. Exemplarisch herauszuheben ist dafür etwa Guido Kellers Rom-Flug, eine Art Abziehbild von D’Annunzios Flugzettelaktion über Wien, bloß dass Keller nicht Flugzettel abwarf, sondern Rosen über dem Quirinalspalast und dem Vatikan sowie einen … nun ja, einen Nachttopf über dem Palazzo Montecitorio. Eine für ihn ebenso typische Aktion: der Diebstahl eines Schweinchens, das er sich schnappte, nachdem er seine Maschine auf der Wiese eines Bauernhofes gelandet hatte. Erheiternd auch der Raub zahlreicher wertvoller Hengste des italienischen Heeres, das Fiume belagern sollte und zur Abwendung weiteren Übels mit der Rückerstattung in Gestalt einer entsprechenden Anzahl Pferde entschädigt werden musste, wobei es sich dabei um Gäule fortgeschrittenen Alters handelte. Mit derlei Anekdoten könnte man wohl ewig fortfahren.

Nun, es drängte sich förmlich auf, ein derartiges historisches Ereignis hundert Jahre später in Form eines Comics aufzuarbeiten. Die Geschichte um die Ereignisse von Fiume wurde zur Legende. Zu einer Legende gewiss, von der die überlieferten Geschichten auch wahr sind. Mithin kann man wohl sagen, dass die Form des Comics das Mittel der Wahl ist, um die Ereignisse jener Zeit auch entsprechend bebildert überliefern zu können. Auf eine ähnliche Idee kamen einst bereits die alten Ägypter, denken wir nur an die Wandmalereien, wie wir sie aus den ägyptischen Grabmalen des Altertums kennen. Selbst heute behauptet sich das Genre der Comics auf seine Art gegenüber modernen Darstellungsformen – wie etwa der Fotografie oder dem Film –, die es nicht wie ein Comic vermögen, die Ereignisse und deren inneren emotionalen Wert auf solch effiziente Art und Weise zu vermitteln. Denn das Comic schafft es dank seiner Mischung aus Umgebungszeichnungen, der Anordnung der emotionalen Ebene seiner Figuren und der auf das Wesentliche verdichteten Textbeigabe, den Leser so sehr in seinen Bann zu ziehen, dass man glaubt, die Ereignisse virtuell noch einmal mitzuerleben, die in Form der Bildergeschichte so einzigartig beschrieben und erzählt werden. Selbstverständlich eignet sich das Medium des Comics nicht für jede Geschichte gleich, und gewiss gibt es Dinge, die in anderen Darstellungsformen besser vermittelt werden können. All das etwa, das bloß Gedankenspiel, nur theoretisches – abstraktes – Konzept bleibt, eignet sich nicht für das erzählerische Format einer Bildergeschichte. Abstrakte Kategorien in Form eines Comics entsprechend darzustellen, etwa die Moral, das Gute oder Böse oder andere philosophische Bezugsgegenstände, ist unmöglich. Sie lassen sich in Form von Bilderserien oder reduziert auf Sprechblasen nicht adäquat übertragen. Comics sind nicht gemacht für jene Abenteuer des Gedanklichen. Comics sind vielmehr jenes außergewöhnliche Medium, um tatsächliche Abenteuer zu erzählen.

Doch kehren wir zurück nach Fiume. In und zu Fiume gibt es nichts zu erfinden, denn es handelt sich um eine wahre Begebenheit und eine überaus authentische Erzählung. Und die Vielzahl der erzählenswerten Ereignisse ist so einzigartig und vielfältig, dass selbst der fantasiebegabteste Autor wohl seine Schwierigkeiten hätte, sie in solch einer Fülle zu erfinden. Vorliegend ging es für die Zeichner Mauro Vecchi und Yildirim Örer also darum, die Gesamtgeschichte, ihre Persönlichkeiten und Szenerien grafisch aufzubereiten und so der erzählerischen Handlung aus der Feder des Historikers, Schriftstellers und Erzählers Manlio Bonati eine bildliche Interpretation zu verleihen. Das Gesamtwerk beruht auf der Grundlage dokumentierter historischer Tatsachen, die um einige kleinere Aspekte ergänzt wurden, in denen die Autoren ihre künstlerische Freiheit dazu nutzten, die historischen Tatsachen launig einzubetten. Und wenngleich davon nicht alles ganz der historisch dokumentierten Wahrheit entspricht, so hätten all die kleinen und feinen Ergänzungen doch genau so passierensein können. Jene Einzelbilder, die den Comandante beim … nennen wir es: Entspannen … zeigen, mögen nicht ganz der Überlieferung entspringen. Aber wer würde behaupten, sie seien eine unzulässige künstlerische Veredelung?

All jene, die ihren Beitrag zu diesem einzigartigen Werk geleistet haben, besitzen die tollkühne Unverfrorenheit, zu glauben und zu hoffen, dass dem Bilderreichen[1] höchstpersönlich dieses Werk nicht missfallen würde.

_________

[1]   Dies ist eine Anspielung auf einen der Spitznamen des Stelio Èffrena, Hauptfigur und Alter ego des Schriftstellers, in D’Annunzios Werk Das Feuer.